Predigt von Norbert Mette ökumenischen Gottesdienst zur Gebetswoche für die Einheit der Christen am 29. Januar

 

Predigt zu Jes 1, 10-17

im ökumenischen Gottesdienst zur Gebetswoche für die Einheit der Christen am 29. Januar 2023 in St. Sebastian Münster-Amelsbüren

Norbert Mette

 

[hier evtl. den Text aus der Basisbibel einfügen)

 

Liebe hier zum ökumenischen Gottesdienst versammelte Gemeinde!

Eure Opfer widern mich an. Eure Festtage sind mir lästig. „Auch wenn ihr noch so viel betet – ich höre es nicht. Denn an euren Händen klebt Blut.“ (Jes 1, 15)

Es ist ein harter Brocken, den uns der gerade verlesene Bibeltext zumutet. Jesaja richtet der Bevölkerung von Jerusalem aus, was ihm Gott aufgetragen hat. Sodom und Gomorra sind im sprichwörtlichen Sinn Städte, die für Unmoral und Gotteslästerung stehen. Wenn Jesaja so die Jerusalemer anspricht, deutet er bereits an, was in dieser Stadt los ist und warum Gott darauf so heftig reagiert. Die Jerusalemer pflegen zwar viele verschiedene fromme Praktiken, aber das bleibt äußerliches und faktisch gotteslästerliches Gehabe. Denn Entscheidendes, was den Glauben ausmacht, unterbleibt, nämlich das Tun des Guten und des Gerechten untereinander. In der zuvor vorgetragenen Perikope aus dem Markusevangelium wird das von Jesus bekräftigt: genau so wie Gott zu lieben gilt es, „… seinen Mitmenschen zu lieben wie sich selbst, das ist viel wichtiger als alle Brandopfer und anderen Opfer“ (Mk 12, 33).

Dass wir uns in diesem Gottesdienst mit diesem Abschnitt aus dem Jesaja-Buch beschäftigen, liegt daran, dass eine damit beauftragte Gruppe aus Minnesota den letzten Vers , den Vers 17, als Motto für die diesjährigen Gebetswoche für die Einheit der Christen ausgesucht hat. Sie sehen darin die Gefühle, Kämpfe und Hoffnungen der heutigen Nachkommen der versklavten afroamerikanischen und indigenen Menschen in ihrer Heimat ausgedrückt, besonders den Rassismus, unter dem sie bis heute zu leiden haben.

„Lernt, Gutes zu tun! Sucht das Recht!“ fordert Jesaja seine Landsleute in Juda und Jerusalem im 8. Jahrhundert v.Chr. eindringlich auf. Er geht von der bitteren Tatsache aus und prangert sie an, dass es dort nicht zum Guten bestellt ist, dass allenthalten Unrecht herrscht. Einige Verse später führt er an, wie das konkret aussieht: „Wie konnte die treue Stadt zur Hure werden? Früher hatte hier das Recht seinen Platz, die Gerechtigkeit war hier zu Hause. Doch jetzt haben die Mörder das Sagen. Dein Silber, Jerusalem, ist mit Schlacke verunreinigt, dein Bier ist mit Wasser verdünnt. Deine Beamten halten sich nicht an die Gesetze, sie machen mit Dieben gemeinsame Sache. Sie lassen sich alle gern bestechen und sind auf der Jagd nach Geschenken. Doch für das Recht der Waisenkinder treten sie nicht ein. Die Klage der Witwe lassen sie bei Gericht nicht zu.“ (Jes 1, 21-23) Die, die Macht haben, bereichern sich – den Mittellosen verweigern sie ihre grundlegenden Rechte, um überhaupt leben zu können. Eine tiefe Spaltung ist in die Stadt eingekehrt. Flehentlich ruft Jesaja zur Umkehr auf: Jerusalem möge wieder zu einer Stadt des Rechts und der Gerechtigkeit werden – nicht zuletzt um endlich wieder Gebete und Gottesdienste verrichten zu können, die Gottes wirklich würdig sind. Denn der Gottesdienst ist nur dann gottgefällig, wenn er mit dem Menschendienst in Einklang steht.

Hier haben wir es mit einem zentralen Aspekt des Gottesglaubens zu tun, der sich durch die ganze Bibel hindurch zieht. Der Alttestamentler Frank Crüsemann hat ihn mit seiner Feststellung auf den Punkt gebracht: „„Will man alles, was die Bibel über Gott und Mensch zu sagen hat, mit einem einzigen Wort zusammenfassen, so kommt allein der Begriff der Gerechtigkeit in Frage.“ Allein im im Laufe von mehr als 400 Jahren entstandenen Jesajabuch kommen die Begriffe „Recht“ und „Gerechtigkeit“ knapp 100 Mal vor. Im Neuen Testament lässt sich beispielsweise die Bergpredigt treffend als ein hohes Lied der Gerechtigkeit bezeichnen: „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles andere wird euch dazu gegeben.“ (Mt 6, 33) „Selig sind die, die verfolgt werden, weil sie für Gottes Gerechtigkeit eintreten.“ (Mt 5, 10)

„Gottes Gerechtigkeit“ – was ist damit gemeint? Wie verhalten sich Gott und Gerechtigkeit zueinander? Die Bibel gibt dazu präzise Auskunft. So heißt es etwa bei Jesaja: „Der heilige Gott erweist sich als heilig durch Gerechtigkeit.“ (Jes 5, 16) Der Prophet Jeremia betont zweimal „Der Name Gottes ist Gerechtigkeit.“ (Jer 23,6; 33,16) Laut Psalm 82 erweist sich der wahre Gott als derjenige, der den Armen und Bedrückten, den Deklassierten und Entrechteten zu ihrem Recht verhilft. Das Leitprinzip göttlichen Handelns ist demzufolge Gerechtigkeit. Und er will nichts anderes, als dass es im Umgang der Menschen untereinander gerecht zugeht und nicht die einen um des eigenen Vorteils willen die anderen ausbeuten und unterdrücken.

So gesehen ist Gerechtigkeit mehr als eine sozialethische Konsequenz des Glaubens, sondern bezieht sich auf das Zentrum des Glaubens selbst, auf Gott. Genau das drückt Jeremia (22, 16) aus, wenn er sagt. dass Menschen, wenn sie das Gerechte tun. Gott erkennen.

Doch, so stellt sich die Frage, wann geht es denn gerecht zu? Was ist das Kriterium dafür? Auch dazu findet sich in der Bibel eine konkrete Angabe. Gerechtigkeit meint in der hebräischen Sprache ein Tun, das in Unordnung Geratenes und somit Falsches wieder richtig stellt und auf das Gemeinwohl bedacht ist. Dass etwas in Unordnung geraten ist, zeigt sich am krassesten dann, wenn eine Gruppe in der Gesellschaft es sich bis zum Überfluss hin gut gehen lassen kann und die anderen stattdessen Tag für Tag dafür kämpfen müssen, über das Notwendige zum Leben und Überleben für sich und ihre Angehörigen sorgen zu müssen. Daran, wie es den Schwächsten geht, wird deutlich, ob es in der Gesellschaft gerecht zugeht oder nicht. Als besonders benachteiligt werden im Alten Testament – so wie auch in dem hier behandelten Jesajatext – die Witwen und die Waisen genannt, an anderen Stellen ergänzt um die Fremden. Sich von deren Not betreffen zu lassen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen sowie die, die rücksichtslos auf ihre Macht und ihren Reichtum aus sind, zur Verantwortung zu ziehen, genau das ist Handeln im Sinne Gottes. Denn er selbst hat sich als derjenige offenbart, der sich der Erniedrigten und Bedrängten annimmt und für sie Partei ergreift. An späterer Stelle im Jesajabuch (58, 6f. 9f) wird das konkret auf die daraus folgende soziale Praxis der Gläubigen übertragen: Es geht um parteilichen Einsatz in Form von Fesseln des Unrechts und der Gewalt zerreißen, Hungrige sättigen, Armen ein Obdach geben, Nackte bekleiden und den Mitmenschen sich nicht verschließen. Jesus hat diese Stelle in seiner Rede vom Weltgericht nach Matthäus (25, 31-46) aufgegriffen und bekundet, dass er selbst es ist, der in den Hungrigen, Durstigen, Fremden, Nackten, Kranken und Gefangenen begegnet. Diese „Option für die Armen“ und Benachteiligten ist in jüngerer Zeit von der Theologie der Befreiung wiederentdeckt worden und wird in ihrer Praxis beherzigt – bis dahin, dass die Armen als Protagonisten der Verkündigung der Frohen Botschaft gelten, weil sie sich mit der der ihnen aufoktroyierten prekären Lebenssituation in der Bibel wiederfinden.

Wenn dieser Gott, wie es in beiden biblischen Testament heißt, ein Volk erwählt und mit ihm einen Bund schließt, dann möchte er damit bewirken, dass wenigstens innerhalb dieser Gemeinschaft nach Art einer Modellgesellschaft die Befolgung dieser seiner Gerechtigkeit konsequent gelebt wird und sie damit den anderen Nationen zum Vorbild wird. Dazu erwählt zu sein, gilt nicht nur für den weiterhin bestehenden alten Bund, sondern auch für den neuen Bund, also für uns Christgläubigen und für unsere Kirchen. Was den Einsatz für die Armen und Benachteiligten angeht, so geschieht durchaus viel Gutes und Vorbildliches – im Kleinen vor Ort und im Großen weltweit. Doch ist bei diesem Tun in den eigenen Reihen allgemein bewusst, dass es nicht erst als sozialethische Aufgabe aus dem Glauben folgt, sondern dass es für den Glauben an den biblischen Gott konstitutiv ist? Verräterisch ist, dass häufig von Kirche und Diakonie, von Kirche und Caritas nebeneinander gesprochen wird, als wären das zwei jeweils eigenständige Bereiche. Nein, Kirche ist Diakonie, Kirche ist Caritas – sonst ist sie keine Kirche. Und es ist Pflicht nicht nur des oder der einzelnen Gläubigen, sondern der Kirche und der Kirchen als ganzer, in dem Streit um Gerechtigkeit hierzulande und weltweit Position in Wort und Tat zu beziehen, insbesondere überall dort, wo Menschenwürde und Menschenrechte mit den Füßen getreten werden. Dass damit manchen – möglicherweise auch in den eigenen Reihen – vor den Kopf gestoßen wird, hat schon Jesus selbst bitter erfahren müssen. Dieses entschiedene Parteiergreifen nach außen für die und mit den zur Ungerechtigkeit Verdammten ist allerdings nur glaubwürdig, wenn ebenso entschieden innerkirchlich Gerechtigkeit praktiziert wird. Dass es auch hier massive Versäumnisse gibt, ist nur zu offensichtlich und braucht nicht eigens im Einzelnen benannt zu werden. Es ist wohl auch hier ein kräftiger „Wumms“ nötig, damit die Kirchen aus ihrer Beschäftigung mit sich selbst herauskommen.

Eine kurze Zwischenbemerkung zur Ökumene: Wenn die Kirchen wirklich ernstnehmen, dass der Einsatz für Gerechtigkeit und damit für Frieden, Freiheit und Nachhaltigkeit für den Glauben an den biblischen Gott konstitutiv ist, dann würde der Streit um die noch bestehenden Differenzen in den Lehrfragen ein ganz anderes Gewicht bekommen. Auch sie wären daraufhin zu befragen, ob sie inhaltlich hinreichend dem Aspekt der Gerechtigkeit Gottes Rechnung tragen. Bei der so zentral gemachten Frage der Eucharistie bzw. des Abendmahls ließe sich das konkret durchbuchstabieren. Vom früheren Generaloberen des Jesuitenordens Pedro Arrupe ist der Satz überliefet: „Wenn es in einem Teil der Welt Hunger gibt, bleibt unsere Eucharistiefeier in allen Teilen der Welt irgendwie unvollständig.“

Zum Schluss bleibt noch die Frage: Wenn Glaube und Gerechtigkeit biblisch gesehen so eng zusammenbuchstabiert werden müssen, wie ist es dann um das Gebet und den Gottesdienst im Sinne der direkten Zuwendung an Gott bestellt? In der bedrängten Zeit des nationalsozialistischen Unrechtregimes hat der inhaftierte Dietrich Bonhoeffer in folgender Formel ausgedrückt, worin im Kern die christlich-gläubige Praxis besteht: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Der Clou dieser Formel ist, dass sich beides wechselseitig bedingt: Das Beten gewinnt durch das Tun des Gerechten seinen Inhalt; es lässt von Gott her und vor ihm den Blick nicht nur auf sich selbst richten, sondern auf die Nächsten und Fernsten, besonders die ungerecht Leidenden. Das Tun des Gerechten kämpft leidenschaftlich dafür, dass etwas von Gottes Gerechtigkeit als Sonne in die Welt hinein scheint; es bleibt aber in der betenden Hinwendung zu diesem Gott davor bewahrt, fanatisch und damit inhuman und widergöttlich zu werden.

„Lernt, Gutes zu tun, sucht das Recht! Weist den Unterdrücker in die Schranken! Verhelft dem Waisenkind zum Recht! Zieht für die Witwe vor Gericht!“ (Jes 1, 17) Amen